Ländlichkeit und das Gewicht des Ungesagten: Eine stille Spannung in Leicht wie Federn und Das Mädchen
23.12.2025
08.12.2025
Die Figur des Zwillings ist seit jeher ein kraftvolles Mittel des europäischen Kinos, um Fragen von Identität, Moral und zwischenmenschlicher Verbundenheit zu erforschen. In Filmen wie Ildikó Enyedis’ Mein 20. Jahrhundert (1989), Clara und Laura Laperrousaz’ Brennende Sonne (Soleil battant 2017) und Austeja Urbaites Vergiss nicht zu blinzeln (Remember to Blink 2022) werden buchstäbliche und metaphorische Zwillinge – oder eng miteinander verbundene Charaktere – zu Spiegelnvon Dualität, Traumata und Zugehörigkeit. Jeder Film zeigt auf unterschiedliche Weise, wie Gleichheit und Unterschied nebeneinander existieren und dabei essenzielle Einblicke in das menschliche Dasein erlauben.
In Mein 20. Jahrhundert präsentiert Enyedi eines der eindrucksvollsten Duos der Filmgeschichte: Dóra und Lili, Zwillingsschwestern, die in der Kindheit zu Beginn der Moderne getrennt wurden. Sie wachsen in gegensätzlichen Welten auf – die eine wird zur verführerischen Schriftstellerin, die andere zur revolutionären Anarchistin. Ihr identisches Äußeres steht in krassem Kontrast zu ihren unterschiedlichen Ideologien und macht ihre Zwillingsbeziehung zu einer Reflexion über das moderne Frausein. Dóra verkörpert Sinnlichkeit und Materialismus, Lili steht für Intellekt und politischen Widerstand. Über diese Figuren vermittelt Enyedi die zerrissene Identität der Frau im 20. Jahrhundert – zwischen Verlangen und Pflicht, Lust und Fortschritt hin- und hergerissen. Das leuchtende Schwarz-Weiß des Films, kombiniert mit Enyedis Faszination für Elektrizität und Technologie, legt eine weitere Schicht von Kontrasten frei: Licht und Schatten, Schöpfung und Zerstörung.

Das französisch-portugiesische Drama Brennende Sonne verlagert das Zwillingsmotiv in den privaten Kontext einer Familie. Unter der Regie der Zwillingsschwestern Clara und Laura Laperrousaz begleitet der Film Iris und Gabriel, die einen Sommer in Portugal mit ihren sechsjährigen Zwillings-Töchtern Emma und Zoé verbringen. Unter der idyllischen Oberfläche liegt eine stille Spannung, die vomTod ihrer älteren Schwester ausgeht. Obwohl die Mädchen erst unzertrennlich wirken, bekommt ihre Beziehung nach und nach Risse. Ihre identischen Gesichter spiegeln Trauer, Schuld und Unbehagen wider. Hier wird das Zwillingsmotiv genutzt, um die Nachwirkungen von Verlust innerhalb einer Familie zu illustrieren. Hinter der Ähnlichkeit verbirgt sich der Unterschied – diskret, aber unveränderlich. Durch die Besetzung mit echten Zwillingen und die Inszenierung in symmetrischen Bildkompositionen kreieren die Laperrousaz-Schwestern eine eindringliche psychologische Studie über Erinnerung, Verlust und Verdrängung.

Austeja Urbaites Vergiss nicht zu blinzeln nutzt das Zwillingsmotiv metaphorisch. Die Geschichte handelt von einem französischen Paar, das zwei litauische Kinder adoptiert und die junge Übersetzerin Gabriele hinzuzieht, um den Kindern bei der Eingewöhnung zu helfen. Obwohl die Kinder keine Zwillinge sind, bilden sie ein symbolisches Paar – verbunden durch Entwurzelung und allmählich auseinandergezogen durch die konkurrierenden Erwartungen der Erwachsenen um sie herum. Während die Kinder zu Gabriele Vertrauen aufbauen, werden ihre Eltern zunehmend kontrollierend und es entfaltet sich ein Netz aus emotionalen Dualitäten: einheimisch versus fremd, Elternteil versus Vertrauensperson, Autorität versus Empathie. Gefangen zwischen diesen Kräften, spiegeln die Kinder eine klassische Zwillingsdynamik wider, in der zwei Leben miteinander verbunden sind, ohne je identisch zu sein.
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Über alle drei Filme hinweg wird die Zwillingsfigur – ob wörtlich oder metaphorisch – zu einem Prisma, durch das Identität und Transformation untersucht werden können. Enyedis mythische Zwillinge fangen die Widersprüche der Moderne ein; die Zwillingskinder der Laperrousaz-Schwestern demaskieren eine von Verlust geprägte Familie; Urbaitės adoptierte Geschwister spiegeln kulturelle Entwurzelung wider.Das Zwillingsmotiv im Kino erkundet die fragile Grenze zwischen dem Selbst und Anderen, Einheit und Spaltung, Liebe und Kontrolle.
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